Zerrissen nach allen Seiten. Eine lange Nacht über Kunst und Grauen im Ersten Weltkrieg im Deutschlandfunk

(Text:GCK)

Im November 1918 endete in tiefstem Grauen, was vier Jahre zuvor mit einer Begeisterung ohnegleichen begonnen hatte. Der Rückblick auf den Kriegsbeginn 1914 ist eine der schrecklichsten Zeitreisen, die wir heute unternehmen können. Auch noch in der Gegenwart empfindet man den Phantomschmerz, der von dem Urknall der Zivilisation, dem Ersten Weltkrieg verursacht wurde. Man muss sich vergegenwärtigen, wie vielversprechend und hoch gestimmt die Situation der Künstler, Schriftsteller, Intellektuellen in jener Zeit war – ein Panorama geprägt von einer grenzübergreifenden Kultur, von internationaler Wissenschaftspraxis und einem hochstehenden Lebensstil. Carl Sternheim, Heinrich Mann, Henry van de Velde und Harry Graf Kessler waren Europäer im Denken. Die Künstler der Vorkriegszeit standen im Austausch mit dem Paris der Moderne – als Protagonisten einer avancierten europäischen Identität. Paris, London, Berlin und Wien waren die Metropolen, in denen der Geist der Moderne geboren wurde.

In der Vorkriegszeit hatten die Künste einen ungeheuren Aufbruch der Ideen, der Erfindungen und Neuanfänge erlebt. „Avantgarden“ nannten sich die fortgeschrittensten Künstler in Europa. Mit Kriegsausbruch sprengten diese Künstler auch in die vorderste Front der Armeen. „Reinigung, Befreiung, Hoffnung“ waren die Worte, mit denen Thomas Mann den Kriegsausbruch begrüßte. Wir erinnern in dieser ‚Langen Nacht‘ an die begeisterten, ja euphorischen Stimmen, mit denen im August 1914 viele Künstler und Intellektuelle loszogen, begleitet von expressionistischen Kriegsgedichten, die sich vom Krieg den Rausch des Kampfes als ästhetisches und vitales Ereignis versprachen. Krieg sollte ein kollektives und nationales Erwachen sein und den Sieg der (deutschen) Kultur gegen die (französische) Zivilisation feiern. Gerhard Hauptmann, Franz Marc, August Macke…. Kaum jemand hatte sich diesem kollektiven Rausch entzogen: Sie suchten das Abenteuer wie Ernst Jünger, das futuristische Zeitalter, die Chance, als jüdischer Bürger endlich Anerkennung zu finden. Ein Schriftsteller wie Ernst Toller kehrte im Sommer 1914 von seinen Studien in Frankreich unverzüglich nach Deutschland zurück, um wenige Wochen später als Aggressor in das ehemalige Gastland einzudringen – und doch bekam er nichts von des Kaisers Versprechen ab, auch als Jude in dieser Nation den gebührenden Respekt zu erlangen.

Was bedeuten heute, nach 100 Jahren, diese vier Jahre der Erfahrung von Politik, Krieg und Leiden? Alles hatte sich in dieser Zeit verändert. Jeder Lebenssinn wurde verrückt, jede Existenz beschädigt. Bis heute ist es schwer nachvollziehbar, trotz ‚Schlafwandler‘-Theorie, wie Europa hoffnungsvoll, euphorisch, optimistisch in eine solche Katastrophe stürmen konnte. Der Krieg hatte sich als ein Chamäleon erwiesen, vor dem schon Carl von Clausewitz gewarnt hatte.

Nichts blieb, nicht der Adel und nicht das Bürgertum, erst recht nichts vom Hochgefühl der Deutschen, die sich noch 1914 den europäischen Nachbarn zu überlegen gefühlt hatten. Dennoch: intellektuelle, Schriftsteller und Künstler hatten vom Krieg gelernt, wurden Teil der ‚Wandlung‘. Vom ‚Geist der Utopie‘ bis zum Bauhaus waren sie die schöpferische Kraft, die den Beginn der Republik begleitete. Ein Grund, an ihre Wandlung zu erinnern.

Im November 1918 endete der Erste Weltkrieg, auf das Kaiserreich folgte die Republik. 1919 beschloss die Nationalversammlung in Weimarer ihre Verfassung. 1919 wurde auch der Versailler Vertrag unterzeichnet. Im Jahr 1919 wurden die Weichen gestellt für die Zukunft Deutschlands und Europas.

Der Deutschlandfunk wiederholt aus diesem Anlass die folgende Sendung:

10.11. 2018, 00:05 Uhr Lange Nacht

Zerrissen nach allen Seiten. Eine Lange Nacht über Kunst und Grauen im Ersten Weltkrieg
Von Monika Künzel und Michael Köhler
Regie: Rita Höhne
Studiogäste:
Prof. Dr. Bénédicte Savoy, Kunsthistorikerin TU Berlin,
Prof. Dr. Gertrude Cepl-Kaufmann, Literaturwissenschaftlerin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf,
Prof. Christoph Stölzl, Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar
(Wdh. v. 05./06.04.2014)

„Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.“ Nicht nur Thomas Mann verklärte den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 als „Großen Krieg“. Er fiel in eine Phase außergewöhnlicher Vitalität und der Gründung von Avantgardebewegungen in den Künsten und beeinflusste mehr als jeder andere Konflikt das Werk der Künstler, die ihn erlebten. Avantgardebewegungen wie der Expressionismus und der Kubismus waren entstanden, Künstlervereinigungen wie ‚Die Brücke‘ und ‚Der Blaue Reiter‘ gegründet. Selbst Käthe Kruse staffierte ihre kindlich-lebensechten Stoffpuppen als stramme Potsdamer Soldaten in denUniformen der kriegführenden Staaten aus. Wer heute verstehen will, „wie die Herzen … sogleich in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde“, muss sich die Zeit vor 100 Jahren vergegenwärtigen. Der Dadaist Walter Serner beschrieb den Krieg als eine Reaktion auf das umgehende „Gespenst der Langeweile“. Doch wich die große Begeisterung für diesen Krieg in der Bevölkerung im Gegensatz zu vielen Künstlern schnell einer nicht minder starken Ernüchterung. Der britische Historiker Christopher Clark provozierte mit seinem Werk ‚Die Schlafwandler‘ ein neues Nachdenken über die Komplexität der europäischen Vorkriegspolitik. 70 Millionen Soldaten standen in Europa, Afrika, Asien und auf den Weltmeeren unter Waffen. 17 Millionen Menschen starben unter erbärmlichen Umständen. Wer überlebte, trug seine Narben, körperlich und seelisch, sein Leben lang. Erich Maria Remarque hat mit seinem Buch ‚Im Westen nichts Neues‘, zehn Jahre nach seinen eigenen Kriegserlebnissen, einer verlorenen Generation ein bis heute erschütterndes Denkmal gesetzt.

Informationen zur Sendung: Die „Lange Nacht“ ist aus urheberrechtlichen Gründen nur punktuell als Audio-on-demand abrufbar. Wir empfehlen zur Aufzeichnung den Dradio-Recorder.